Margitta: „Mein Leben liess sich mit Alkohl leichter ertragen“
Vater, Mutter und fünf Kinder wohnen in einem kleinen Häuschen. Ich bin vier oder fünf Jahre alt, HHgehe die Treppe hoch. Mein Vater kommt mir entgegen und fragt: „Was machst du denn?“ „Ich muss etwas holen“, antworte ich. Da nimmt mein Vater mich auf den Arm und geht mit mir in unser Zimmer und vergeht sich zum ersten Mal an mir.
An dem Tag endete mein Kindsein. Mir wurde eine Verantwortung aufgebürdet, die kein Kind tragen kann: Durch mein Schweigen musste ich verhindern, dass mein Vater ins Gefängnis kam und somit meine Mutter und Geschwister auf der Straße landeten. Ich wurde unzählige Male körperlich und seelisch missbraucht. Es gab niemandem, dem ich mich anvertrauen konnte. Wir Kinder wurden nach außen komplett abgeschottet. Freunde gab es nicht. Wir durften auch nirgendwo allein hin. Immer war er dabei. Bei Bekannten, Nachbarn und Arbeitskollegen galt er als der Supervater. Das Spiel „Heile Welt“ beherrschte er perfekt. Und dann war da ja noch die Drohung: „Du hast Schuld, wenn deine Geschwister und deine Mutter auf der Straße landen“
An diesem Tag endet auch mein Erinnerungsvermögen. Aus meiner Kindheit und Jugendzeit sind nur kurze Erinnerungsfetzen geblieben, die Blitzlichtern ähneln. Wenn sich meine Geschwister über lustige und weniger lustige Dinge aus der Vergangenheit unterhielten und zu mir sagten: „Du musst das doch noch wissen!“, fühlte ich mich immer wie eine Außenstehende.
„Ich wusste nicht, was es heißt, ein Selbstwert- und Körpergefühl zu haben“
Ich wurde volljährig, feierte viel, trank auch viel Alkohol. Bald heiratete ich meinen Jugendfreund, die Scheidung folgte nach fünf Jahren. Dann lernte ich meinen zweiten Ehemann kennen, der Vater meines Sohnes wurde. Mit den Jahren bemerkte ich, dass er die gleichen Wesenszüge wie mein Vater hatte. Er wurde mir und anderen Frauen gegenüber übergriffig. Ich blieb trotzdem bei ihm, denn ich hatte es ja nicht anders gelernt. Bedingt durch den Missbrauch und den despotischen Vater konnte ich nicht wie andere Kinder lernen, was es heißt, ein Selbstwert- und Körpergefühl zu haben oder wie man seine Meinung in Auseinandersetzungen vertritt.
Mit der Zeit trank ich immer mehr Alkohol. Ich merkte, dass sich ein Leben damit leichter ertragen ließ. Zu diesem Zeitpunkt habe ich jedoch nicht bedacht, dass ich in die Sucht abrutschen könnte. Ich war immer der Meinung, dass ich alles im Griff haben. Dem war natürlich nicht so. Nach vielen Jahren des exzessiven Trinkens war ich abhängig und körperlich und seelisch ein Wrack. Es dauerte allerdings noch lange, bis ich erst mir und dann meiner Familie eingestand, dass ich alkoholkrank war.
Als gar nichts mehr ging, fand ich mit Unterstützung meiner Familie und eines kompetenten Sozialarbeiters eine Klinik, in der ich entgiften und anschließend eine Langzeittherapie machen konnte. Diese Klinik hatte eine separate Gruppe für Trauma-Patienten. Der Aufenthalt in der Klinik dauerte insgesamt fünf Monate. Ich schwor mir, dass ich nie wieder Alkohol trinken wollte. Ich wollte nie wieder so leiden, nie wieder in die soziale Einsamkeit abgleiten und mich nie wieder so für mein Verhalten schämen müssen. Zur Therapie gehörten Einzel- und Gruppengespräche sowie Sport und Ergotherapie. Hier konnte getöpfert, gemalt oder mit Holz gearbeitet werden. Außerdem gab es eine Vortragsreihe zum Thema Alkohol. In diesen Vorträgen lernte man alles, was man zum Thema Alkoholabhängigkeit wissen muss.
„Ich lernte, wie ich mit den zugefügten Verletzungen umgehen konnte“
Nach meiner Langzeittherapie wurde mir geraten, eine Selbsthilfegruppe aufzusuchen. Was ich auch tat: Erst ging ich vier Jahre in eine Gruppe des Freundeskreises, dann zehn Jahre in eine Gruppe des Frauenbundes. In diesen Jahren warf mich immer wieder vieles zurück. Gottseidank hatte ich nie einen Rückfall, was den Alkohol betraf. Jedes Mal, wenn ich seelisch abstürzte und nicht weiterwusste, habe ich mich meinem Hausarzt anvertraut. Ich war während dieser Zeit noch viermal in einer psychosomatischen bzw. Trauma-Langzeittherapie. Hier lernte ich viel über mich und wie ich mit den mir zugefügten Verletzungen umgehen konnte. Zusätzlich zu den Therapieangeboten wurde ich auch medikamentös eingestellt, noch heute nehme ich leichte Antidepressiva – ein Mittel, um mit den Auswirkungen der seelischen Verletzungen umzugehen. Des Weiteren nahm ich an vielen Seminaren des Deutschen Frauenbundes teil, heute leite ich zusammen mit einer Mitstreiterin selbst eine Frauengruppe. Ganz langsam lernte ich, mein Selbstwertgefühl auf- und die Schuldgefühle abzubauen. Heute kann ich für mich einstehen und gehe selbstbewusst durchs Leben.