Margitta (64): Für mich gab es kein Entkommen
Noch vor meiner Einschulung wurde ich von meinem Vater sexuell missbraucht. Er ließ keine Gelegenheit aus, um übergriffig zu werden. Mir wurde immer wieder gedroht: Sollte ich jemandem davon erzählen, wäre ich schuld, wenn er ins Gefängnis käme, die Familie kein Essen hätte und in Not leben müsste. Eine schwere Verantwortung für ein Kind!
Die Übergriffe dauerten bis ins Teenageralter an. Für mich gab es kein Entkommen. Er war despotisch und herrisch. Versuchte tatsächlich mal jemand ein bisschen Widerstand, wurde er tagelang ignoriert. Damit ich in dieser Situation überleben konnte, baute sich meiner Seele ein Schutz auf – bis heute besteht eine Art Mauer. Dahinter sind die Erlebnisse bis hin zur Teenagerzeit vergraben. Wenn sich unsere Familie trifft und von früher erzählt, komme ich mir wie eine Fremde vor. Ich kann nicht mitreden, da ich mich kaum erinnere.
Das Leben ist eine einzige große Party
Alkohol hat bei mir bereits in den Teenager-Jahren eine Rolle gespielt. Als ich dann als junge Erwachsene dem Elternhause und meinem Vater entfliehen konnte, hatte ich das Gefühl, das Leben sei eine einzige große Party. Ich heiratete einen Freund aus Kindertagen – und die Party ging weiter. Nach wenigen Jahren trennten wir uns.
Dann lernte ich meine große Liebe kennen, und ein Jahr später wurde unser Sohn geboren. In der Schwangerschaft und die ersten Monate nach der Geburt habe ich auf Alkohol verzichtet. In den nächsten Jahren trank ich bei Feiern oder wenn wir ausgingen.
Er wurde zusehends aggressiver
Nach der Heirat kauften wir ein Haus und mein Mann machte sich mit einem Kollegen bei uns im Haus selbstständig. Von da an ging eine negative Veränderung mit meinem Mann vor, zuerst schleppend. Die Veränderung nahm schnell Fahrt auf. Ich merkte, dass mein Mann die gleichen Wesenszüge wie mein Vater hatte. Er wurde mir und anderen Frauen gegenüber übergriffig. Hier machte sich meine Prägung als Kind bemerkbar: Ich lebte in dem Irrglauben, ich könnte die anderen Frauen beschützen und ließ ich mich jahrelang sexuell ausnutzen. Auf Feiern stand er immer Mittelpunkt. ich wurde oft um den tollen Mann beneidet. Zu Hause sah es dann anders aus: Je nachdem wie viel Alkohol er getrunken hatte und wenn nicht alles so lief, wie er es sich vorstellte, ging auch schon einmal das eine oder andere Teil im Haus kaputt. Er wurde zusehends aggressiver. Ich konnte ihm nichts mehr recht machen, und unser Sohn wurde fast nur noch von ihm angeschrien. Er war immer ein selbstbewusstes Kind gewesen, jetzt schlich er nur noch mit gesenktem Kopf durchs Haus, um ja nicht aufzufallen. Um das Leben zu ertragen, trank ich Alkohol.
Natürlich hätte ich meinen Mann verlassen müssen, aber damals hatte ich immer wieder Argumente, es nicht zu tun: Du kannst dem Kind nicht den Vater nehmen. Oder: Wenn ich ihn verlasse, endet er unter der Brücke. Da es mit der Selbständigkeit nicht lief, war er auf mein Gehalt durch meine ganztägige Arbeit angewiesen war.
Ich drang nicht mehr zu ihm durch
Sein Zustand verschlechterte sich. Ich drang nicht mehr zu ihm durch. Bei einem heftigen Streit habe ich nicht nachgegeben und mich mit allen Mitteln gewehrt. Das Resultat war, dass er sich in seinem Büro verbarrikadierte und anderthalb Flaschen Wein trank. In einem Brief schrieb er mir, ich solle mir bei einem Psychiater Hilfe suchen. Dann setzte er sich ins Auto und fuhr los. Abends stand dann die Polizei vor der Haustür: Er hatte einen schweren Unfall provoziert, indem er in den Gegenverkehr raste. Drei junge Menschen verbrannten in ihrem Auto. Eine junge Frau hinterließ ein kleines Kind. Er selbst war nicht angeschnallt, überlebte jedoch schwer hirnverletzt und wurde in die Uniklinik geflogen.
Das folgende Jahr war der Horror. Er lag im Wachkoma. Geplagt von Schuldgefühlen, weil ich das Verhalten meines Mannes nicht vorhergesehen hatte, war ich neben meiner Arbeit jeden Tag in der Klinik. Meinen Sohn habe ich dabei fast vergessen. Das waren die nächsten Schuldgefühle. Er hatte ja auch ein Trauma erlitten – für ihn war sein Vater ein Mörder. Und ich war nicht für ihn da. Er rutschte ab, schmiss das Gymnasium und nahm Drogen – das hielt die nächsten 15 Jahre an. Ich selbst trank ich immer mehr Alkohol, musste jedoch noch für meinen Sohn sorgen. Nach einem Jahr Wachkoma starb mein Mann.
Tagsüber trank ich nicht, aber abends
Mit 18 Jahren zog mein Sohn aus, er konnte das Haus nicht mehr ertragen. Die Firma suchte sich andere Räume – und nun gab es kein Halten mehr: Tagsüber trank ich nicht, aber abends. Bald erlitt ich einen Zusammenbruch, ging in die psychosomatische Reha, verkaufte danach das Haus und zog in eine Wohnung. Doch jetzt ging es erst richtig los. Ich ging weiter arbeiten, fieberte jedoch dem Feierabend entgegen. Auf dem Nachhauseweg wurde dann noch Alkohol gekauft, damit nichts meinen schönen Feierabend stören konnte.
Morgens dann das Zittern der Hände, Kreislaufprobleme. Ich durfte aber nichts trinken, ich musste ja arbeiten. Mitunter war das Zittern so schlimm, dass ich meine Arbeit nicht mehr vernünftig machen konnte. Dann wurde ich wegen einer fortgeschrittenen chronischen Lungenerkrankung krankgeschrieben. Nun konnte ich schon morgens trinken. Ich brachte es in dieser Zeit auf eine bis anderthalb Flaschen Wodka am Tag. Jeden Morgen nahm ich mir vor, heute trinkst du nicht. Manchmal habe ich es geschafft, zwei oder drei Tage nichts zu trinken, um mir selbst zu beweisen, dass ich kein Alkoholproblem habe.
Mit jedem Schluck Wodka wurde ich gleichgültiger
Danach war ich beruhigt und trank weiter. Mit jedem Schluck Wodka wurde ich gleichgültiger. Ich ging nur noch raus, um Alkohol oder manchmal auch ein paar Lebensmittel zu besorgen. Mein Haushalt war mir egal. Ich verwahrloste immer mehr. In einem großen Wandschrank hortete ich meine Flaschen. Unangekündigten Besuch konnte ich schon lange nicht mehr empfangen, soziale Kontakte hatte ich keine mehr. Die Schraube nach unten ging unaufhörlich weiter. Zu diesem Zeitpunkt machte das Trinken keinen Spaß mehr. Ich litt sehr unter meiner Sucht, war jedoch immer noch nicht bereit, etwas zu ändern.
Dann kam Weihnachten: Wie immer war eine Familienfeier angesagt, was für mich bedeutete, den ganzen Tag nichts zu trinken. Abends beim Essen zitterten meine Hände so heftig, dass ich die Gabel nicht mehr halten konnte. Ohne etwas dazu zu sagen, fütterte mich meine ältere Schwester wie ein kleines Kind. Ich schämte mich in Grund und Boden. Ich wusste: Ich muss etwas ändern, sagte aber immer noch nichts. Zu Hause angekommen habe ich die Schamgefühle erst einmal weggetrunken. Dann rief mein Bruder an und fragte mich nach meinem Alkoholproblem. Das war genau der richtige Moment. Ich ließ mir helfen.
Meine Wohnung wurde zur alkoholfreien Zone
Ich ging am nächsten Morgen in ein örtliches Krankenhaus. Dort habe ich mit dem Sozialarbeiter alles Nötige in die Wege geleitet. Ich bekam einen Platz in einer Suchtklinik. Dort entgiftete ich nochmal und anschließend machte ich eine viermonatige Langzeittherapie. Wieder zu Hause habe ich mein Leben neu geordnet. Ich habe Zimmer für Zimmer aufgeräumt und wieder gemütlich gemacht. In der Therapie habe ich gelernt, dass mit jedem Zimmer, das aufgeräumt wird, auch ein Zimmer im Herzen aufgeräumt wird. Der Wandschrank mit den Flaschen war bereits in Ordnung. Mein Sohn hatte alle Flaschen entsorgt. Meine Wohnung wurde zur alkoholfreien Zone. Ich habe mit dem Rauchen aufgehört.
Um die viele Zeit, die ich jetzt hatte, zu füllen, ging ich auf Suche nach einem Hobby. Auch habe ich mein Umfeld wieder wahrgenommen. Ich habe viele Gespräche mit meinen Geschwistern und meinem Sohn geführt. Das mache ich übrigens auch heute noch. Das Wichtigste jedoch war, dass ich mir eine Selbsthilfegruppe gesucht habe. Zuerst ging ich in einen Freundeskreis für Suchtkrankenhilfe. Jetzt bin ich beim Deutschen Frauenbund für alkoholfrei Kultur in einer reinen Frauengruppe. Hier führen wir gute und intensive Gespräche, das Lachen kommt dabei jedoch nicht zu kurz. Ich habe an vielen Seminaren zur Persönlichkeitsentwicklung teilgenommen.
Ich lebe jetzt seit 14 Jahre zufrieden alkoholfrei und bin wieder eine selbstbewusste Frau. Die vielen sozialen Kontakte, die ich geknüpft habe, werden gut gepflegt, und alle wissen, dass ich abholabhängig bin. Ich habe noch nie eine negative Reaktion bekommen. Das zeigt mir, dass ich auf dem richtigen Weg bin und die Krankheit nicht unter den Teppich gekehrt werden muss. Am meisten freue ich mich über meine Alkohol-Freiheit, wenn mein Sohn samt Lebensgefährtin mit den beiden Enkeln unangemeldet vor der Tür steht. Ich kann sie einfach einladen, in die Wohnung zu kommen, ohne mich schämen zu müssen oder hastig die Flasche wegzuräumen.
Ich bin unsagbar stolz auf meinen Sohn. Seit ca. 4 Jahre ist er komplett drogenfrei und hat seinen Weg gefunden. Er hat einen Job der ihm viel Spaß macht und lebt zufrieden mit seiner Frau und den beiden Kindern.