Dorothea (60): „Ich wollte schreien“
Meine Kindheit und Jugend waren geprägt vom starken Alkoholkonsum meiner Eltern. Die drei jüngeren Geschwister und ich wurden nicht gefördert – Hobbys sollten wir nicht haben. Damals habe mich für meine Familie geschämt. Mit 17 Jahren lernte ich meinen späteren Mann kennen, mit 18 zog ich aus. Meine Mutter mir das nie verziehen – sie brach den Kontakt ab. Das hat mich tief verletzt. Vor allem deshalb, weil meine vier Geschwister mich auch nicht mehr sehen durften.
Ich ging meinen Weg, hatte Erfolg im Beruf, und nach sieben Jahren heirateten wir. Mit 25 bekam ich meine Tochter, die ich mir so wünschte. Unser Leben fühlte sich zunächst gut an. Mit dem Kind wollte ich alles richtig machen: Meine Tochter sollte stark und selbstbewusst werden und in guter Atmosphäre aufwachsen.
Zu Hause mit der kleinen Tochter fehlte mir bald der Austausch mit anderen Menschen. Mein Mann war beruflich sehr eingespannt, arbeitete viel und lange. Ich fühlte mich sehr allein. Die Familie meines Mannes war keine Unterstützung. Es gab Konflikte. Mir wurde sehr bewusst, dass ich keine Familie hatte, die zu mir stand. Ich wollte alles perfekt haben und begann nach und nach, Erleichterung durch Alkohol zu suchen. Es war schrecklich: Mit jedem neuen Tag mit Alkohol habe ich mich geschämt und wusste, so kann es nicht weitergehen. Ich sah aber keinen Ausweg.
Meinen Mann wollte ich nicht um Hilfe bitten, dazu hatte ich nicht den Mut. Ich wollte alles gut und besser machen, als in meiner Herkunftsfamilie. Meine Ehe sollte besser laufen, als die meiner Eltern. Darüber habe ich aber nicht mit meinem Mann gesprochen. Ich war überfordert, vermisste auch die berufliche Anerkennung und war sehr allein. Ich erinnere mich, dass ich oft schreien wollte, damit mich jemand hört. Doch ich tat es nicht, dafür habe ich den Alkohol geschluckt. Erst heimlich und wenig und dann immer mehr, bis es schließlich nicht mehr zu verheimlichen war. Ich brach zusammen – vier Jahre hatte es gedauert.
Alkoholfreie Zone
Mein Mann hat geweint – das war das Allerschlimmste für mich. In seinen Augen las ich Enttäuschung und Traurigkeit. „Wenn du es nicht schaffst, werde ich mit unserer Tochter gehen“, sagte er. Das war das Schlimmste, was ich mir überhaupt vorstellen konnte.
Doch mit seiner Hilfe kam ich schließlich raus. Er half mir, den Weg ohne Alkohol zu gehen. Mein Mann hat mich nicht verachtet, ich habe seine Liebe gespürt, trotz Allem. Das hat mir die Kraft gegeben, für unsere kleine Familie gesund zu werden. Er hielt zu mir, und wir schafften zu Hause eine alkoholfreie Zone. Mein Mann vertrat offen vor Freunden und Familie unser jetziges Leben ohne Alkohol. Es war ihm nicht peinlich, er wollte mit mir weiterleben.
Zusammen besuchten wir eine Sucht-Selbsthilfegruppe. Ich wurde langsam stärker und konnte Selbstbewusstsein aufbauen. Es wurde von Jahr zu Jahr besser, und ich besprach jetzt Probleme mit meinem Mann. Wir führten eine Ehe auf Augenhöhe. Unsere Tochter studierte, alles war gut. Ich habe dann, als ich abstinent lebte und sicherer war, eine Umschulung begonnen. Froh war ich, dass mein Kopf noch funktionierte. Der neue Beruf in der Pflege erfüllte mich, und ich war lange Jahre in leitender Position tätig.
Neuer Schicksalsschlag
Dann ein Bruch: Mein Mann starb mit 54 Jahren an einem Herzinfarkt – und ich war erst 49. Was jetzt? Viele Fragezeichen. Doch eines kam mir überhaupt nicht in den Sinn: Trost im Alkohol zu suchen. Meine Tochter hatte zu mir gesagt: „Mama steh auf und tu etwas, geh in eine Gesprächsgruppe. Die gibt es nicht nur für Probleme mit Alkohol, sondern auch für Trauernde.“ Ich habe dann Hilfe im Hospizverein gefunden. Außerdem hatte ich eine Freundin aus der Sucht-Selbsthilfe, die mir beistand. Meine Kolleginnen waren eine große Stütze. Gespräche mit dem Psychologen haben mir durch die Schwere und Traurigkeit geholfen. Das hatte ich mir durch die Krankenkasse erkämpft, denn eine Kur wurde abgelehnt.
Meine Freundin aus der Selbsthilfe machte mich mit dem Deutschen Frauenbund für alkoholfreie Kultur bekannt: „Komm doch einfach mal mit, da triffst du andere Frauen.“ Bei einem Tagesseminar lernte ich diese Frauen dort kennen und schätzen. Jetzt, zehn Jahre später, arbeite ich aktiv im Verein mit. Frauenspezifische Themen, die wir besprechen, haben mich weitergebracht und bereichert: Ich kann als Frau alleine gut leben und habe meinen Horizont erweitert.
Heute ist alles gut
Ich bin stolz auf mich, auf meine Tochter und auch auf meinem Mann, mit dem ich 33 Jahre verheiratet war. Er wäre jetzt stolz auf mich, wie ich mein Leben meistere. Die Liebe für unsere Tochter, versuche ich auch für ihn mit weiterzugeben.
Ich bin jetzt 60 Jahre, lebe allein und bin zufrieden. Zu Tochter und Schwiegersohn habe ich einen guten Kontakt. Ich kann meine Gefühle äußern und setze Grenzen. Ich habe ein gutes soziales Umfeld. Heute ist alles gut. Ich möchte anderen Frauen Mut machen, Wege aus der Alkoholabhängigkeit zu finden.