Elisabeth (82): „Ich habe mich geschämt, dass ich trinken musste“

Mit Mitte 30 war ich nicht berufstätig, hatte mit meinen vier Kindern aber immer ganz gut zu tun. Als ich bereits morgens schon das Bedürfnis hatte, zu trinken, merkte ich, dass das nicht mehr in Ordnung war. Ich musste trinken, weil ich Angst hatte, dass ich meine ganze Hausarbeit nicht schaffte. Ich tat das heimlich, weil ich mich geschämt habe, dass ich trinken musste.

Morgens holte ich immer Brötchen und brachte mir aus dem Zeitungsladen eine große Flasche Wodka mit. Diese habe ich im Gebüsch vor unserem Haus versteckt und erst reingeholt, nachdem mein Mann zur Arbeit gegangen war. In der Wohnung habe ich die Flaschen im Wasserkasten der Toilette oder im Schirmständer versteckt.

Wodka im Schirmständer

Für meinen Mann und für Gäste hatten wir immer eine Kiste Bier und Korn im Haus. Oft habe ich meinen Mann gebeten, mal nichts einzukaufen, weil ich sonst nicht verzichten konnte. Er hat es nie verstanden, dass ich trinken musste. Einmal hat sich einer meiner Söhne gewundert, dass ich immer wieder in der Speisekammer verschwand. Er hat nachgeschaut und fand dort eine Flasche hinter den Dosen versteckt. Wenn ich für Nachschub sorgen musste, habe ich zusätzliche Artikel gekauft, damit der Wodka nicht so auffiel.

Ich kann mich nicht erinnern, dass mir mein Mann oder meine Kinder Vorwürfe gemacht hätten, trotzdem habe ich heimlich getrunken. Ich habe mich sehr geschämt dafür, dass ich nicht ohne Alkohol sein konnte, habe mir heftige Vorwürfe gemacht. Immer wieder fragte ich mich, ob ich eine schlechte Mutter wäre, ob die Kinder zu kurz kämen. Den ganzen Tag kreisten meine Gedanken um den Alkohol.

Zwei Kinder waren inzwischen aus dem Haus, die Beziehung zu meinem Mann war zerstört, und ich zog für das Trennungsjahr zu meinem ältesten Sohn. Die beiden jüngsten Kinder wollten bei meinem Mann bleiben; das hat mich sehr verletzt und traurig gemacht.

Dann zog ich in eine eigene Wohnung und trank weiter, oft gemeinsam mit einer Nachbarin, die wohl das gleiche Problem hatte wie ich. Ich bagatellisierte meinen Konsum, weil sie ja schließlich auch trank.

 

„Ich wollte unbedingt raus aus der Misere.“

Ich hatte nie eine gute Freundin. Mir fehlte stets eine Bezugsperson, ein Mensch, dem ich vertrauen konnte. Ich wollte nicht mehr trinken, wusste aber nicht, wie ich das schaffen sollte. Körperlich und seelisch ging es mir furchtbar schlecht. Ich konnte keinen normalen Gedanken mehr fassen, ich habe von morgens bis abends gegrübelt. Es ging mir so mies, dass ich dachte, schlechter kann es nicht mehr werden. Ich wollte unbedingt raus aus der Misere.

Im Alter von 50 Jahren ging ich in meiner Not zu meinem Hausarzt. Auch wenn ich keine Vorstellung hatte, was Alkoholsucht bedeutete und was eine Entgiftung ist, ließ ich mich ins Krankenhaus einweisen. Gleich anschließend machte ich in einer Fachklinik in Bremen über sechs Monate eine Langzeittherapie.

 

„Erst nach einem Rückfall suchte ich mir eine Selbsthilfegruppe.“

Ich war viele Jahre trocken. Aus Neugierde und weil ich wissen wollte, ob ich mit dem Alkohol kontrolliert umgehen kann, war ich so leichtsinnig, es auszuprobieren. Ich wollte ja schließlich nicht mein ganzes Leben lang auf den Alkohol verzichten.

Das ging natürlich gründlich schief!

Ich machte erneut eine Entgiftung. In dem Krankenhaus lagen Flyer für Selbsthilfegruppen aus. Ich entschied mich für eine Gruppe in der Nähe meiner Wohnung. Der erste Besuch ist mir wahnsinnig schwergefallen. Ich bin mehrmals vor dem Haus auf- und abgegangen, fast hat mich der Mut verlassen. Schließlich habe ich mich überwunden und ging rein. Es war eine Gruppe für Frauen und Männer.

Ich fand es toll, wie alle so offen und selbstverständlich über ihre Probleme mit dem Alkohol gesprochen haben. Ich wusste, dass ich da immer wieder hingehen wollte. Später wurde die Selbsthilfegruppe zu groß und wir dachten über eine Teilung nach. Einige Frauen entschieden sich, eine Frauengruppe zu gründen. Ich fand die Idee blendend! Ich war in der Gruppe offener, viel lockerer und es fiel mir leichter, über mich zu sprechen.

 

„In der Frauengruppe fand ich die Freude am Leben wieder.“

Ich habe einen künstlerischen Beruf erlernt und hatte früher große Freude am Malen und Handwerken. Während meiner nassen Zeit war meine ganze Kreativität verschüttet. Da wir uns auch außerhalb der Gruppe zum Werkeln, Basteln und Malen trafen, fand ich, mit der Hilfe der Frauen, meine frühere Begeisterung an der Kreativität wieder.

Ich lebe jetzt seit zehn Jahren alkoholfrei, und die Frauengruppe ist fester Bestandteil meines Lebens geworden. Wir treffen uns zu verschiedenen Aktivitäten, machen Seminare zur Persönlichkeitsbildung, zur Entspannung und zu vielen anderen Themen. Ich habe kein schlechtes Gewissen mehr, ich muss mich nicht mehr schämen und das Leben macht mir einfach Spaß. Zu meinen vier Kindern habe ich heute ein ausgesprochen gutes Verhältnis und ich bin ihnen sehr dankbar, dass sie all die Jahre zu mir gehalten haben, mich nie haben fallen gelassen.

Zurück