Heidi (63): Mein bester Freund der Körper
Seit 62 Jahren habe ich einen besten Freund. Es ist mein Körper. Manchmal ärgert er mich zwar mit allerlei Zipperlein, Kinderkrankheiten und so, aber im Großen und Ganzen vertragen wir uns.
Eines Tages kam ein Bekannter vorbei. Mit ihm hatte man Spaß, konnte lachen und man war viel lockerer. Das war der Alkohol. Immer wenn der Bekannte wieder weg war, beschwerte sich mein bester Freund über Übelkeit, Kopfschmerzen und Appetitlosigkeit.
Mein Gott, so schlimm war es doch nicht! Denn so oft kam der Bekannte ja nun auch nicht vorbei. Und außerdem versprach ich meinem besten Freund auch immer wieder, den Bekannten nicht mehr allzu oft hereinzulassen. Mein Freund glaubte mir und unterlies seine Attacken gegen mich.
Der Bekannte kam immer öfter ...
Bald konnte ich mein Versprechen nicht mehr halten. Der Bekannte kam immer öfter und jedes Mal blieb er auch länger. Mein Freund, der Körper, wehrte sich erbittert gegen seinen Widersacher. Immer stärker wurden seine Abwehrattacken. Nicht nur Übelkeit, sondern auch Händezittern bescherte er mir. Er warnte mich immer massiver, aber der Bekannte wurde immer wichtiger in meinem Leben. Schon manchmal kam er vor dem Frühstück und blieb bis zum Nachmittag. Warum stellte sich mein Freund nur so an? Solange mein Bekannter da war, ging es mir doch gut.
Dann kam der Tag, an dem mein Freund es nicht mehr aushielt. Er schickte mich mit einer schweren Bauchspeicheldrüsenentzündung auf die Bretter. „Wenn du nicht hören willst, musst du fühlen“, sagte er zu mir. Er ließ mich elf Tage auf der Intensivstation auf Leben und Tod liegen, und weitere drei Wochen im Krankenhaus schmoren. „Und hast du es jetzt verstanden?“, fragte er. „Ich will dir nichts Böses, aber sonst begreifst du nicht, dass dein Bekannter ein Arschloch ist.“
Ich fing die Dreierbeziehung wieder an
OK, ich hatte verstanden. Jedenfalls für einige Zeit. Mein Bekannter ließ aber nicht locker. Zwar wehrte ich mich noch einige Wochen, aber dann hatte er gewonnen. Ich fing die Dreierbeziehung wieder an. Und mein bester Freund drohte mir: Seine Attacken wurden immer schlimmer. Mit Schlaflosigkeit und Schweißausbrüchen strafte er mich immer öfter. Aber mein Bekannter schaffte es, diese Dinge verschwinden zu lassen. Aber immer nur für kurze Zeit.
Jetzt reichte es meinem Freund endgültig. Mit einem Entzugskrampf jagte er mich wieder auf die Intensivstation. Ausgerechnet im Urlaub. Ich war böse mit ihm, obwohl ich wusste, dass er Recht hatte. Also, so konnte es nicht weiter gehen. Mein Freund und ich gingen zur Suchtberatung. Vielleicht konnten sie uns ja dort helfen.
Sie konnten.
Mein Freund und ich kamen in eine Suchtklinik. Wir vertrugen uns gut dort, und mein Bekannter hatte keine Chance, sich zwischen uns zu drängen. Mann, was ging es uns gut! Ein gutes Jahr lebten wir friedlich miteinander. Keiner konnte unserer Freundschaft etwas anhaben. Dann aber übernahm ich mich mit meiner Umschulung – und ich dachte, vielleicht kann ja mein ehemaliger Bekannter helfen. Es hatte doch schon einmal geklappt, das Leben leichter zu sehen. Wieder wollte ich nicht einsehen, dass mein Bekannter mir nur schaden und nicht helfen wollte.
Schnell war ich wieder in dieser Dreiecksgeschichte gelandet. Wieder wehrte mein Freund sich vehement. Wieder Übelkeit, Erbrechen, Schweißausbrüche und Zittern. Mein Gott stellte er sich an! So lange und so viel trank ich doch gar nicht. Mein Freund wusste, was er tat. Er versuchte mich mit aller Kraft von meinem Bekannten zu trennen. Endlich begriff ich, wie ernst es meinem Freund war. Wieder gingen wir zur Suchtberatung – und wieder halfen sie uns. Ich beendete die Dreiecksbeziehung, weil ich wusste, dass ich so nicht glücklich werden konnte. Denkste!
Er hatte mich fest im Griff
Es dauerte nur ein paar Monate, und mein Bekannter hatte mich wieder fest im Griff. Und alles nur durch Leichtsinn. Wehren konnte ich mich nicht. Selbst die Selbsthilfegruppe, bei denen ich Mitglied geworden war, konnten mich nicht vor meinem Bekannten bewahren. Er war mir wieder wichtiger geworden. Mein Freund hielt erstaunlicherweise still. Er hatte einfach keine Lust mehr zu kämpfen. Er gab mir zwar durch Übelkeit und Zittern zu verstehen, dass ihm was nicht passte, aber sonst verschonte er mich. Läuft doch gut, meinte mein Bekannter, und ging gar nicht mehr.
Meinen Job hatte er mich zwar gekostet, und 80 Aspirin konnten ihn auch nicht stoppen.
Nachdem ich meinen Tablettenkater und meine 3 Promille im Krankenhaus ausgeschlafen hatte, stand er wieder in der Tür. Jetzt musste ich die Notbremse ziehen. Ich rief einen Suchtberater an, der mich schnellstens von meinem Bekannten trennte und zum Entzug brachte. Danach brachte er mich und meinen Freund in eine andere Suchtklinik. Hier habe ich mich endlich auf mich und meinen Freund konzentriert. Oft sind wir allein in den Wald gefahren, nur wir zwei.
Ich habe mich endgültig von meinem Bekannten getrennt ...
Ich habe mich endgültig von meinem Bekannten getrennt, mich von ihm verabschiedet. Nur so kann ich mit meinem Freund alt werden. Denn er wird mir immer treu zur Seite stehen. Mein Körper ist mein bester Freund – und wird es bleiben. Er wird mich zwar immer wieder mit einigen Zipperlein ärgern, aber ich weiß, er meint es nicht böse. So kann ich heute sagen, dass es mir gut geht, weil mein bester Freund bei mir ist, und meinen Bekannten nicht mehr an mich heranlässt. Er begegnet mir zwar immer wieder beim Einkaufen und auf Feiern, aber ich lasse ihn links liegen und beachte ihn nicht mehr. Ich kann ohne meinen Bekannten leben.